Es gibt ihn nicht mehr, den Ort meiner Kindheit
Friedrich Ekkehard Vollbach
Alte Postkarte
Mit Wehmut schaue ich auf den See des ehemaligen Tagebaues Zwenkau, für dessen Aufschluss die beiden Landgemeinden Bösdorf und Eythra weichen mussten. 3.215 Menschen verloren dadurch ihre Heimat.
Seit mehr als 7000 Jahren siedelten Menschen hier am Ufer der Weißen Elster, wie jüngste Funde archäologischer Grabungen belegen. In der fruchtbaren Auenlandschaft fanden sie ein recht befriedigendes Auskommen.
Nachdem sie den Auwald gerodet hatten, legten sie Felder und Gärten an, errichteten Unterkünfte und später solide Häuser. Schließlich sicherten sie ihr Hab und Gut durch Schutzdämme vor dem jährlichen Elsterhochwasser im Frühjahr. -
Viel später, etwa seit den sog. Gründerjahren am Ende des 19. Jahrhunderts, verbanden viele Menschen hier die Annehmlichkeiten des Landlebens mit der Nähe der Großstadt, in der sie arbeiten oder Handel treiben konnten.
Dann kam das für beide Dörfer verhängnisvolle Jahr 1970, in dem die sozialistischen Planwirtschaftler der DDR die Überbaggerung dieser Orte beschlossen.
Viele Bösdorfer und Eythraer hofften lange Zeit, der bittere Kelch würde doch noch an ihnen vorübergehen, aber ihre Hoffnung erfüllte sich nicht.
Nachdem 1974 bis 1977 die Weiße Elster nach Westen verlegt und in ein Betonbett gezwängt worden war, folgte 1977 die Verlegung der Eisenbahnstrecke Leipzig - Zeitz.
Im Jahre 1980 begannen die Abrissbrigaden in den beiden Dörfern mit ihrer zerstörerischen Arbeit. Schon nach wenigen Monaten sahen beide Orte aus, als seien sie Ziel eines mörderischen Bombenangriffs gewesen. Man nutzte das entstandene Trümmerfeld tatsächlich als Kulisse einschlägiger kriegerischer Filmszenen.
Binnen zweier Jahre wurde alles devastiert, was den gefräßigen Baggern im Wege stand. Das Fremdwort „devastare" (lat. völlig zerstören) war vielen Leuten unbekannt. Es wurde von offizieller Seite benutzt, da es freundlicher und humaner zu sein schien als das „brutale" deutsche Wort „zerstören".
Heute noch unfassbar für alle Betroffenen:
die Einwohner Eythras wurden zwar zwischen 1982 und 1986 ausgesiedelt, die Ortslage selbst aber erst nach 1989 überbaggert.
Seitdem existieren beide Dörfer nur noch in den Erinnerungen ihrer einstigen Bewohner, die durch ihre Umsiedlung in alle Winde zerstreut wurden.
Die beiden Gemeinden erlitten mithin das gleiche Schicksal wie 64 weitere Orte im Südraum von Leipzig.
23. 342 Menschen verloren auf diese Weise in diesem Gebiet ihre Heimat. Dabei muss man bedenken, dass in ganz Deutschland insgesamt 312 Orte devastiert worden sind, ein Drittel davon in Sachsen.
Und der Abbau der Kohle unter den ehemaligen Orten dauerte nur erschreckend wenige Jahre. Geblieben sind die tiefen Narben, die die Tagebaue der einst so fruchtbaren und romantischen Auenlandschaft zugefügt haben.
Die Kirche von Eythra Bild: E. Vollbach
Ein Ort lebt von, mit und durch die Menschen, die in ihm wohnen.
Das sind einmal jene Bewohner, die über die Ortsgrenze hinaus wirken und auch außerhalb der Dorfgemeinschaft bekannt sind. Für Bösdorf und Eythra waren das allerdings so viele nicht.
Liebenswert und lebenswert jedoch machen ihren Heimatort andere, nämlich die Unbekannten und Stillen des Landes, die Humorvollen und Eigenwilligen, die Originale und Originellen, die „Philosophen" und Geschichtenerzähler.
Oswald Pfeifer, der Pfeifer Ossel, wie man ihn allgemein nannte, wurde im Jahr 1886 in Bösdorf, soviel ich weiß, als Sohn eines Schusters geboren und wohnte dann die meiste Zeit seines Lebens in Eythra.
Der junge Oswald träumte vom Besuch einer Kunstakademie, um Kunstmaler werden zu können, doch der Vater hielt von den Flausen des Sohnes nichts. Sein Sohn sollte einen anständigen Beruf erlernen, darum kam er zu einem Zimmermann in die Lehre.
Im Alter von 17 Jahren, er war noch Lehrling, verunglückte Oswald bei Reparaturarbeiten an einem Scheunendach des sog. Neuhofs. Man legte den Schwerverletzten auf einen Rüstwagen und brachte ihn so nach Leipzig ins Diakonissenhaus, - für den Verunfallten eine schlimme Tortur. Acht Operationen musste er über sich ergehen lassen, dennoch war an eine künftige Tätigkeit als Zimmermann nicht mehr zu denken.
Ossel erhielt eine kleine Unfallrente und ist, abgesehen von einer kurzen Zeit, in der er trotz seiner Behinderung als Bademeister im Freibad Eythra tätig war, nie wieder einer geregelten Arbeit nachgegangen. Mit Hilfe dieser Rente und dem, was seine Frau in einer Leipziger Fabrik verdiente, lebte er nun seinen Neigungen.
Er war von stämmiger Statur, hatte einen mächtigen Schädel, den ein kleiner Oberlippenbart zierte. Auf Bildern wirkt er wie eine Respektsperson in seinem dunklen Anzug mit korrekt gebundener Krawatte. Ich sehe ihn noch ganz genau vor mir mit seinem Damenfahrrad, bei dem das eine Pedal starr fixiert war, damit Ossels steifes Bein beim Fahren einen Halt hatte. Besonders auffällig war der sehr breite Motorradsattel, den er sich an seinem Rad anbringen ließ. Dieses Monstrum ließ einen Jungen überrascht ausrufen: „Muss der Alte aber einen breiten A. . .haben" Mit diesem Rad unternahm Oswald viele Fahrten in die nähere und weitere Umgebung, so nach Markranstädt, Weißenfels, Pegau, Boma.
Die weiße Frau Bild: E. Vollbach
Im Laufe der Zeit entwickelte er sich zu einem profunden Kenner der Region um Bösdorf und Eythra. Vor allem die Geschichte und die Geschichten seines Heimatortes lagen ihm am Herzen. Gewissenhaft notierte er außergewöhnliche Begebenheiten im Dorf und dessen Umgebung, sammelte entsprechende Zeitungsberichte und ihm zugängige Dokumente.
Mit dem Anfertigen von bunten Glückwunschkarten verdiente er sich ein kleines Zubrot, aber vor allem porträtierte er interessante Nachbarn und Bürger seiner Heimat, schilderte deren Profession, malte ihre Häuser und Werkstätten und hielt die Straßen und Gassen in Bösdorf und Eythra in Gemälden und Zeichnungen fest.
Weit über 100 Bilder und Holzschnitte fanden sich in seinem Nachlass. So illustrierte er unablässig und eindrucksvoll seine Heimat in der Zeit zwischen 1910 und 1954.
In besonderer Weise interessierte sich Oswald Pfeifer für Vor - und Frühgeschichte.
Wurde irgendeine Grube oder ein Graben ausgehoben, war er zur Stelle. Er sammelte Scherben, Steinbeile und alles, was ihm unter die Finger kam. Seine Funde stellte er ab 1938/39 im „Heimatmuseum" Eythra aus, einer kleinen Holzbaracke in der Nähe des Gasthofs „Grüne Eiche". Ein Teil seiner Fundstücke wurde in die Sammlung der Stadt Zwenkau integriert. Seine „Forschungsergebnisse" versuchte er immer mit Hilfe kleiner Schriften einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen, doch das Interesse seiner Mitbürger hielt sich in Grenzen.
Man darf dabei aber nicht übersehen, dass Pfeifer Autodidakt war. Nicht alle seine Meinungen, Schlussfolgerungen und Behauptungen halten einer wissenschaftlichen Prüfung stand.
Ossel war übrigens ein hervorragender Geschichtenerzähler. Bei Gemeindefesten und anderen Gelegenheiten scharten sich alle Kinder um ihn und lauschten gespannt mit großen Augen und offenen Mündern seinen Sagen, Fabeln, Spukgeschichten und Räuberpistolen.
Noch heute erinnere ich mich an seine Erzählung vom „Lips Tullian", an die Spukgeschichte „Die weiße Frau", an das Schauermärchen „Der schwarze Hund" oder die (von ihm erfundene) Sage „Die drei verwunschenen Ritter".
Die verwunschenen Ritter Bild: E. Vollbach
Ein Original und Geschichtenerzähler meines Heimatortes hat mich als Kind sehr beeindruckt. An ihn und zwei weitere Unbekannte des Ortes, möchte ich hier erinnern und ihnen auf diese Weise ein Denkmal setzen.
Erst später erkannte ich, dass Oswald Pfeifer sich von den Fabeln Johann Fürchtegott Gellerts (1715 - 1796) hat inspirieren lassen.
Wie dem auch sei, wir Kinder waren fasziniert und hörten seinen Geschichten immer wieder gerne zu.
Stark beeindruckt hat mich als Kind auch Otto Zeising, Taxiunternehmer und Eigentümer einer Reparaturwerkstatt in Eythra. Ob er je eine Meisterprüfung abgelegt hat, bezweifle ich.
In seiner Werkstatt reparierte er aber alles, was Räder hatte.
Böse Zungen unterstellten ihm, dass manches Fahrzeug in seiner Werkstatt eine viel kürzere Verweildauer hatte, als dann auf der Rechnung ausgewiesen wurde.
Wenn meine Eltern, was sehr selten vorkam, Zeising mit seinem Taxi, einem Opel P4, bemühten, war das ein großes Erlebnis für mich.
Schon das Autofahren an sich war eine tolle Sache, obwohl es gemächlich von statten ging, denn ein rasanter Fahrer war Otto beileibe nicht.
Aber der Mann selber war schon ein Erlebnis, denn der gebrauchte Ausdrücke, die mir bisher unbekannt waren.
Sobald die Erwachsenen, die er gut kannte, in seinem Mietwagen Platz genommen hatten, begann er auf alle poltischen Verantwortungsträger zu schimpfen, nannte sie „Fachebunden", „Verbrescher" und „Schdrolsche".
Erst beschimpfte er so die Nazis, nach 1945 die Kommunisten.
Der schwarze Hund Bild: E. Vollbach
Bei seinen Tiraden wälzte er, was mich ungemein faszinierte, gekonnt seine Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen, ohne sie zu verlieren und ohne sich zu verbrennen.
Als im September 1944 der sog. Volkssturm gegründet wurde, verpflichtete man auch die wehrfähigen Männer im Alter zwischen 16 und 60 in Eythra zu diesem letzten Aufgebot.
Bei der Vereidigung der Volkssturmleute vor dem Rathaus konnte Otto aber seine Hand nicht zum Eid erheben, da er ja seinen Hund auf dem Arm halten musste.
Ich habe ihn zwar nicht persönlich gekannt, doch manches über Beinrots Erich gehört, der nicht gerade mit großer Intelligenz ausgestattet, aber ein großer Musikliebhaber war. Abends konnten die Nachbarn beobachten, wie er vor seinem Radioapparat stand und, sobald eine Musiksendung zu hören war, das unsichtbare Orchester dirigierte. Vor allem war er ein enthusiastischer Opernfreund.
Eines Tages nahmen ihn Volkspolizisten wegen irgendeiner Lappalie fest und verhörten ihn auf dem Revier. Nach dieser Prozedur wollte man ihn entlassen, doch Erich ging nicht. Stattdessen begann er den Polizisten Fragen zu stellen wie: Wer komponierte „Aida"? Welche Opern komponierte Richard Wagner? Von wem stammt „Zar und Zimmermann"?
Die Polizisten konnten seine Fragen nicht beantworten und sorgten verärgert dafür, dass er das Gebäude möglichst schnell verließ.
Sicher könnte man noch weitere Geschichten über einstige Originale der beiden „verlorenen Orte" Eythra und Bösdorf erzählen, aber dafür interessieren sich vielleicht doch nur diejenigen, die einst in den beiden Orten gelebt haben.
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