In Erinnerung an die Demonstration in Eilenburg im Herbst 1989
Friedemann Steiger
Immerhin: Bundeskanzler Helmut Kohl hat meine Rede gelesen, die ich in Eilenburg auf dem Marktplatz am 22. November 1989 - dem Bußtag - gehalten habe. Diese Rede möchte ich, obwohl ich sie schon einige Male veröffentlicht habe, hier auch publizieren; ich halte sie nach wie vor für eine der Situation entsprechende Rede, die ich damals im Auftrag des Neuen Forums hielt:
Der Autor und Redner Friedemann Steiger
Liebe Freunde!
Einen guten Abend wünsche ich euch. Ich ziehe den Hut vor euch. Ich verneige
mich (ich ziehe die Mütze vom Kopf: es ist ein nasser, hässlicher Tag). Ihr habt mit eurem Einsatz die Partei in die Knie gezwungen. Wir leben in einer historisch wichtigen und sehr interessanten Zeit. Wir sind zu einer großen Erkenntnis gekommen: „Wir sind das Volk!" Die Partei hatte die Wirklichkeit abgeschafft. Sie hatte die Lügen installiert und damit die Angst. Aber nun haben wir die Angst verloren. Nur wer Angst hat, ist beherrschbar . . .
Ein SED--Genosse sagte neulich (in der Sauna, wo man nicht sieht, wer wer ist): „Man lebt als Genosse heute gefährlich!" Ja, liebe Freunde, wir haben vierzig Jahre lang gefährlich gelebt. 40 Jahre lang wurden wir unterdrückt, ausgebeutet, gedemütigt, verdummt und bevormundet. 40 Jahre lang gingen wir durch die Wüste. Ein biblisches Motiv. Jetzt sehen wir das gelobte Land: Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber noch sind wir nicht dort. 40 Jahre lang wurde der Führungsanspruch einer Partei mit der Gesetzmäßigkeit der Geschichte begründet. 40 Jahre lang sind wir darauf hereingefallen, haben uns das gefallen lassen. Es gab schon einmal solch einen Anspruch. Damals wurde von der „Vorsehung" gesprochen und damit ein geschichtliches Handeln gesetzrnäßig begründet. Faschismus und Stalinismus haben den gleichen Ursprung. Wer so denkt und handelt, fühlt sich als Vollstrecker der Geschichte und hat immer Recht. Ganz gleich, was er tut. Daher, liebe Freunde, kommt alles Unheil. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
Aber nun sind wir frei, fast frei... Wir möchten uns heute bei allen bedanken, die mit ihrem Fleiß und ihrer Einsatzbereitschaft die neuen Reisemöglichkeiten in die Tat umgesetzt haben, bei allen Beamten, Polizisten und Eisenbahnern. Das war nicht selbstverständlich. Und sie haben es freundlich getan. In einem Ort war sogar die Stempelfarbe für die Visa ausgegangen. Da mussten sich die Beamten die Farbe beim Pfarrer holen. Für solche Zusammenarbeit bin ich immer!
Aber wir wollen nicht nur reisen. Wir wollen mehr. Eine junge Mutti sagte neulich zu mir: „Weißt du, das ist wie bei einem Kind. Es wünscht sich ein Pferd und bekommt erst einmal einen Goldhamster. Aber es will ein Pferd. Da kaufen die Eltern ihm einen Hund. Aber es will ein Pferd. Schließlich bekommt es ein Pferd. Der Goldhamster, das ist die Reisefreiheit. Der Hund ist vielleicht die große Koalition. Aber das Pferd, das sind die allgemeinen, freien und geheimen Wahlen. Wollt ihr das Pferd? (Alle rufen laut. „JA"!).
Gedenktafel am Rathaus Eilenburg für die Demonstrationen im November 1989
Liebe Freunde! Wir sind frei, relativ frei. Aber Freiheit hat etwas mit Verantwortung zu tun. Die SED--Genossen aus unserem Kreis, die in der letzten Woche zu Fasanenjagd in die CSSR gefahren sind - ein Fasan kostet 15 Dollar (Johlen!), haben den Ernst der Situation nicht begriffen. Es geht ums Ganze. Es geht ums Überleben! Um das ganz deutlich zu machen, möchte ich einmal den Körper unseres Staates mit einem unheilbar krebskranken Menschen vergleichen. Da gibt es fünf Sterbephasen, die wir in der Seelsorge beachten müssen.
Die erste Sterbephase: Das „Nichtwahrhabenwollen". Ein Kranker will es nicht wahrhaben, dass er sterben muss. So ging es unserem System und seinen Vertretern vor einiger Zeit. „Warum trifft es gerade uns?" „Wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen!"
Die zweite Sterbephase: Der Zorn. Ein unheilbar krebskranker Mensch nimmt noch einmal alle Kraft zusammen und wird sehr zornig. So war es auch mit unserem System. Ich nenne den Schießbefehl, die Bewunderung der chinesischen Verhältnisse und die Tatsache, dass die Panzer warm liefen im Rosental in Leipzig am 9.0ktober.
Die dritte Sterbephase: Das Verhandeln. Ein Kranker lässt sich von seinem Arzt noch einmal aufbauen; „Ich möchte noch gern meinen Geburtstag erleben"; „die Hochzeit meines Sohnes"; „Weihnachten". Bei uns hieß und heißt „Verhandeln" „Dialog". Gegen den habe ich nun wirklich nichts. Aber warum kommt es erst auf dem Sterbebett dazu?
Die vierte Sterbephase ist die Depression: ein so unheilbar Kranker ist fertig. Er braucht in dieser Phase ganz dringend einen Menschen. So sind heute viele Genossen am Ende. Sie sind entsetzt über die Staatsverschuldungen. Sie sind erstaunt über die Privilegien der herrschenden Clique. So viele Lehrer sind am Ende. Was sie bisher für richtig hielten, gilt nicht mehr. So viele Menschen sind ratlos und verunsichert. Bisher wussten wir, was wir hatten oder nicht, aber nun . . . Die Bibel sagt: „Ach waren wir doch in Ägyptenland geblieben und bei den Fleischtöpfen Ägyptens."
Die fünfte Sterbephase ist die Zustimmung: ein unheilbar krebskranker Mensch stimmt zu. Ja, ich werde sterben. In dieser Phase be?nden wir uns. Die Reisefreiheit ist der Anfang. Wir aber wollen das Pferd. Wir wollen die allgemeinen, freien und geheimen Wahlen.
Es geht, liebe Freunde, nicht um Schlaglöcher, Bananen und bessere Telefone. Es geht um den Menschen. Der Tag heute heißt in unserer evangelischen Tradition „Bußtag", nicht „Wende-Tag"!
Der Mensch ist verkommen. Der Mensch lebt nicht in der Wahrheit. Der Mensch hat den Sozialismus zerstört und endgültig auf die Totenbahre gebracht. Sogar der Gedanke an den Sozialismus lässt uns heute schon erschrecken und grauen. Soweit ist es gekommen. Wir hören dabei „Politdemokratie"; wir hören „Stasi"; wir hören "Die Partei hat immer Recht!" Denkt nicht, dass wir uns darüber freuen. Wir sind immer traurig, wenn eine menschliche Utopie an der Wirklichkeit zerbricht, und das heißt für uns, am Menschen zerbricht. Aber nun haben wir die Wirklichkeit wiedergefunden. Wir haben den Menschen wiedergefunden. Für mich: wir haben Gott wiedergefunden. Gott, der sich darüber freut, dass wir das Volk sind, aber der uns immer wieder sagt: Ihr seid mein Volk. Ich bin froh, dass ich noch etwas Anderes habe. Wir reden von der Auferstehung, von der Auferstehung mitten am Tage. Aber vorher, Genossen, in die Knie! Vorher in Sack und Asche! Tut es euch leid, was ihr angerichtet habt? Denkt ihr noch an die zwangsweise Einführung der Kollektivierung, an das Bauernlegen? Es ist euch nicht vergessen! Denkt ihr noch
an die FDJ-Schlägertrupps, die Antennen auf den Häusern absägten und die Menschen krankenhausreif schlugen, nur weil sie sich informieren wollten? Denkt ihr noch an die Zwangseinführung der Jugendweihe und an die Diskriminierung unserer christlichen Kinder? Denkt ihr an die Berufsverbote bis zum heutigen Tag? Dahin habt ihr uns gebracht, dass wir gegen 100 DM Arbeit und Verp?ichtung vergessen, und die Genossen waren zuerst in Westberlin. Was die Menschen vor dem Gebäude der Staatssicherheit in Leipzig schreien und pfeifen „Schämt euch was!" das möchte ich euch heute auch sagen.
Aber habt keine Angst. Niemand sinnt auf Rache. Wir zahlen euch und euren Kindern nicht zurück, was ihr uns angetan habt. Wir arbeiten nicht mit den gleichen Mitteln wie ihr. In der Sprache der Bibel: Gott unterscheidet zwischen der Sünde und dem Sünder! Wir unterscheiden zwischen dem Menschen und dem, was er tut. Gott liebt den Menschen, aber seine Vergehen hasst er, entschuldigt, wenn ich das in meiner Sprache sage. Ich kann und will nicht verleugnen, dass ich evangelischer Pfarrer bin.
Es gab einmal einen sowjetischen Film, der hieß „Der gewöhnliche Faschismus". Darin wird gezeigt, wie der Faschismus etwas ist, das in jedem Menschen steckt. In dir, in mir! Was ich unserem Staat vorwerfe, ist nicht, dass er eine Diktatur des Proletariats sein will. Wenn er es doch wäre! Was ich unserem Staat vorwerfe, ist dass er gegen den gewöhnlichen Faschismus, der in jedem Menschen steckt, nichts unternommen hat und unternimmt. Jeder, der in unserem Staat eine Machtfunktion hatte, konnte sie g e g e n die Menschen einsetzen, und viele haben es auch getan.
Sehr viele, schon aus Angst.
Liebe Freunde! Wir erleben die Freiheit ganz neu. Für mich heißt das: Ich setze den Menschen nicht absolut. Für alle heißt das: Nehmt eure Verantwortung wahr! Habt genügend Zivilcourage! Seid tolerant! Hört gut zu! Habt eine eigene Meinung! Dazu brauchen wir Offenheit, Ehrlichkeit, Fleiß, Ordentlichkeit. Das sind alte Arbeitertugenden, wie der neue Ministerpräsident sagt. Und, liebe Freunde, vergesst nicht die zehn Gebote! Die sind zwar 3000 Jahre alt. Aber nicht überholt Ich hoffe, dass ich mit meinen Sätzen etwas zur politischen Moral gesagt habe. Ein großer Eilenburger, Martin Rinckart, hat gedichtet: „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen!" Dieses Lied wird heute auf der ganzen Welt gesungen. Was ich im Herzen habe, das kann ich sagen, und was ich im Herzen habe, das kann ich auch tun. Ein solches Herz wünsche ich euch!
(Einer ruft „Amen" dazwischen; ich lache). Ich schließe mit einem Gedicht von Paul Celan:
Also stehen noch
Tempel
Ein Stern
Hat wohl noch
Licht
Nichts nichts
Ist verloren
Vielen Dank!
(Vor mir hatte der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung gesprochen. Er kam kaum zu Wort. So war es leicht für mich zu reden.)
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Zum 25. Jahrestag der friedlichen Revolution war ich eingeladen ins Gewandhaus nach Leipzig, zu einem Festakt, zu einer Rede der Demokratie durch den Bundespräsidenten, die er in Anwesenheit Ihrer Exzellenzen der Präsidenten der Republik Polen, Ungarns, der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik hielt, umrahmt vom Gewandhausorchester unter Leitung von Riccardo Chailly; Einladende waren der Ministerpräsident Stanislaw Tillich, der Präsident des sächsischen Landtages Matthias Rößler und der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Burkhard Jung, mit anschließendem Empfang im Foyer des Gewandhauses. Ich durfte noch einen mitbringen und fragte bei Wolfgang Engel an, der bei der Wende in Krippehna, meinem Wohnort, besonders aktiv war.
So vergehen die Jahre.
Bildnachweis
Bild des Autors: Frau Steiger
Gedenktafel: W. Brekle
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